Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein Textil, welches das Umgebungslicht auffängt und in Energie umwandelt. Sie könnten diese Energie sofort nutzen oder auch speichern. Wäre diese Zukunftsvision nicht auch eine gute Antwort auf Ihre Fragen zu aktuellen Energiethemen? Gedulden Sie sich noch ein wenig. Die Textilforschung ist am Ball.
Bis es soweit ist, können wir die bereits bestehenden zahllosen Möglichkeiten an Smart Textiles nutzen. Smarte Textilien haben ein jährliches Wachstumspotenzial von 10 bis 20 Prozent. Die Hälfte der Abnehmer von intelligenten Textilprodukten kommt aus angrenzenden Branchen, darunter Automobil, Maschinenbau oder Medizintechnik. Die Möglichkeiten für kleine und mittlere Unternehmen sind zahlreich.
Was schon alles möglich ist!
Ein erster Schritt in Richtung energetische Nutzung von Smart Textiles ist die Heizmatte der msquare GmbH aus Stuttgart. Die Matte des Unternehmens funktioniert nach dem Prinzip der Induktion. Ganz vereinfacht erklärt: Fließt Strom durch eine Kupferspule, erzeugt das ein Magnetfeld. Befindet sich in diesem Feld ein leitendes Material, zum Beispiel Metall, entwickelt sich darin eine elektrische Spannung. Ein Teil der dabei entstehenden Energie wird in Wärme umgewandelt.
Die Spule, mit der das Magnetfeld erzeugt wird, stickt das Unternehmen mit Kupferdraht auf das Textil. Da es flexibel ist, kann es sich dem zu erhitzenden Material genau anpassen. Die Wärme entsteht punktgenau dort, wo sie gebraucht wird. Die Heizmatte kann in Produktionsprozessen eingesetzt werden, die Temperaturen bis zu 400 Grad benötigen. Das ist unter anderem im Leichtbau der Fall: Faserverstärkte Kunststoffe werden unter hohen Temperaturen hergestellt. Mit dem Verfahren von msquare spart ein Produzent bis zu 70 Prozent Energie in diesem Prozess.
Ein anderes Beispiel für die intelligente Nutzung von Textilien ist eine Matte, die die Stärke und Verteilung von Druck misst. Beim Schweizer Unternehmen sensomative werden keine Spulen, sondern textile Sensoren eingearbeitet. Beispielsweise werden Personen im Rollstuhl von der Matte daran erinnert, regelmäßig ihre Sitzposition zu ändern, um das Risiko von Dekubitus, einer chronischen Wunde, zu reduzieren.
Die Nahtlos AG, ein Spin-Off der Empa, dem Materialforschungsinstitut des ETH-Bereichs, hat ebenfalls aus textilen Sensoren ein Geschäftsmodell gemacht. Ihr Produkt: Textilelektroden für Langzeit-EKGs. Die Elektroden erfassen die Herzaktivität. Die gesammelten Daten werden dann von einem EKG-Gerät aufgezeichnet. Um die Signalqualität zu verbessern, wird auf herkömmliche Elektroden ein Gel aufgetragen, welches Silberchlorid enthält. Werden die Elektroden über einen längeren Zeitraum verwendet, verursacht das Gel Hautreizungen. Die neue Elektrode besteht aus leitfähigen Textilien und einer integrierten Befeuchtungseinheit, die kein Gel benötigt. Dadurch können EKGs bis zu 14 Tage lang aufgezeichnet werden.
Doch wie wird die immer vielfältiger werdende Elektronik, wie Leiter, Sensoren oder Aktoren eigentlich mit dem Textil verbunden? Das fragten sich Lars Stagun und ein Forschungsteam vom Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM) in Berlin. Verschiedenste Aspekte spielten dabei eine Rolle: Können wir das Herstellungsverfahren standardisieren? Sind die Verbindungen zuverlässig, auch während des regelmäßigen Gebrauchs oder wenn das Produkt gewaschen wird? Was passiert am Ende der Nutzungsdauer? Entsteht Elektromüll oder können die Materialien problemlos wieder getrennt werden?
Das Forscherteam ist zu dem Schluss gekommen, dass bisherige Kontaktierungstechnologien diesen Ansprüchen nicht genügen. Die Lösung ist aber denkbar einfach. „Wir kleben das Elektronikmodul eigentlich nur auf und zwar dort, wo die textilen Leiter verstickt oder verlegt sind. Das ist eigentlich der ganze Zauber“, erläutert Stagun.
Was braucht es, um Smarte Textilien am Markt wirklich voran zu bringen?
Diese und weitere Inspirationen erhielten Besucher des Anwenderforums Smart Textiles vom 15. und 16. März 2023 im schweizerischen St. Gallen. Die Veranstaltung bietet, wie der Name schon sagt, Anwendern ein Forum, um sich ein Update zum aktuellen Stand der Technik zu holen und mit neuen Ideen zu versorgen. Neben vielen Vorträgen gibt es auch einen Ausstellungsbereich. So präsentierten viele Unternehmen sowie Forschungseinrichtungen einige ihrer Produkte und Ideen live vor Ort. Die Zuschauer konnten anfassen, staunen und Fragen stellen.
Prof. Götz T. Gresser rief die Industrie in seiner Begrüßung dazu auf, sich inspirieren zu lassen. Wenn jeder Teilnehmer nur eine einzige Idee von dieser Veranstaltung mitnähme, hätte sich die Tagung für ihn schon gelohnt! „Ohne die Industrie ist der Transfer der Forschungsergebnisse in die Praxis nicht möglich“, so der Vorstandsvorsitzende der DITF (Deutsche Institute für Textil- und Faserforschung). „Unternehmen müssen die Forschung aktiv ansprechen. 16 Forschungsstellen stehen dafür im Netzwerk des Forschungskuratoriums Textil bereit.“
René Rossi, an der Empa Abteilungsleiter unter anderem für den Bereich Smarte Textilien und Wearables, richtete seinen Appell direkt an die Wirtschaft: „Unternehmen brauchen mehr Mut zu disruptiven Geschäftsideen. In der vom Mittelstand geprägten textilen Welt ist dringend ein Paradigmenwechsel notwendig. Die KMU müssen mutiger werden und Veränderungen in Gang setzen, auch wenn Erfolge noch nicht im nächsten Schritt sichtbar werden, sondern einen längeren Atem benötigen. Auch ist die Textilbranche zu sehr unter sich. Es ist zwingend notwendig, sich zu vernetzen und Disziplinen, wie Elektronik, Datenwissenschaft, Informatik und weitere Felder mit unserer Industrie zusammenzubringen, um Ideen auszutauschen. Plattformen, wie das Anwenderforum, sind dafür ideal.“
Reto Hegelbach, Corporate Manager Smart Fabrics bei der Sefar AG, sah noch einen weiteren Aspekt: „Kreislauffähige Produkte sind bislang häufig etwas teurer, als konventionelle Produkte. Da sich die ideellen Werte der Gesellschaft oft nicht mit den monetären Werten decken, fehlt gerade im B2B-Geschäft häufig die Bereitschaft, an dieser Stelle zu investieren. Das muss sich dringend ändern!“
Das jährlich stattfindende Anwenderforum ist beliebt bei den Besuchern. „Wir sind sehr glücklich über diese Veranstaltung“, so einer der Teilnehmer. „Es wurden eine ganze Handvoll an guten Ideen und Ansätzen vorgestellt und wir freuen uns auf die vielen neuen Kontakte und mögliche spätere Kooperationen.“ Die DITF, das Textilforschungsinstitut Thüringen-Vogtland (TITV) sowie das Forschungskuratorium Textil (FKT) laden schon heute zum nächsten Termin am 27./28. Februar 2024 ein. Details folgen.
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